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Deutscher Volkshochschul-Verband

Bildung ist wichtig für die Integration

Interview mit Prof. Dr. Edgar Grande über die Bedeutung von Bildungseinrichtungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Wie ist das Thema "Gesellschaftlicher Zusammenhalt" in den Fokus der öffentlichen Debatte gerückt?

Prof. Dr. Edgar Grande: Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in der Tat zu einem Schlüsselthema der öffentlichen Diskussion geworden. Es gibt derzeit eine ganze Reihe von Aktivitäten, sei es in der Wissenschaft, in der Politik oder Zivilgesellschaft, die sich dieses Themas annehmen. All diese Aktivitäten sind aus einem Gefühl heraus entstanden, dass in unserer Gesellschaft etwas „ins Rutschen geraten“ ist, wie es unser Bundespräsident ausdrückte. Dieses Gefühl scheint weit verbreitet zu sein. Die von Frank-Walter Steinmeiner gewählte Formulierung ist zugleich symptomatisch, weil sie erkennen lässt, dass nicht so recht klar ist, was da los ist. Zu diesem diffusen Unbehagen am Zustand der Gesellschaft hat sicherlich der Aufstieg populistischer Parteien und Bewegungen beigetragen, zuletzt ja auch in Deutschland. Die daraus resultierenden politischen Konflikte – nicht nur mit der AfD, sondern, wie wir im letzten Jahr erlebt haben, auch zwischen den Unionsparteien – haben in ihrer Intensität zugenommen. In diesen Konflikten kommt auch zum Ausdruck, dass der Grundkonsens, der in unserer Gesellschaft in den vergangenen zwanzig Jahren in vielen Themengebieten vorhanden war, – Integration, Klimawandel, Europa, um nur einige zu nennen – inzwischen zunehmend in Frage gestellt wird.

Wie kommt es, dass die Intensität von politischen Konflikten so zugenommen hat?

Prof. Dr. Edgar Grande: Gesellschaftliche Konflikte sind zunächst einmal nichts Ungewöhnliches, ganz im Gegenteil. Und Konflikte können ja durchaus eine Produktivkraft in einer Gesellschaft sein. Nicht die Existenz von Konflikten stellt das Problem dar, sondern ihre Struktur und die Art und Weise, wie mit Konflikten umgegangen wird.

In einer Gesellschaft kann es eine Vielzahl von einzelnen Konfliktfeldern geben. Besonders intensiv werden Konflikte, wenn sie sich auf sehr wenige Schlüsselthemen und Hauptkonfliktlinien zuspitzen lassen. Unsere politischen Systeme – das politische System der Bundesrepublik genauso wie das der anderen westlichen Demokratien – waren im zwanzigsten Jahrhundert geprägt durch eine solche Hauptkonfliktlinie, nämlich den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Dieser hat die Koordinaten der Politik bestimmt, aus diesem Konflikt konnte abgeleitet werden, wer rechts und wer links ist. Die Linken waren für mehr Staat, mehr soziale Sicherung, für eine stärkere Regulierung von Märkten, höhere Steuern und mehr staatliche Interventionen. Die Rechten waren für mehr Markt, für Privatisierung, für Liberalisierung, für Eigeninitiative, für eine entsprechend weniger ausgeprägte Sozialpolitik. All das ist bekannt, es zählt zu den grundlegenden Selbstverständlichkeiten der westlichen Demokratien.

Diese Konfliktlinie ist nun ergänzt worden durch eine neue, eine zweite: den Konflikt zwischen Offenheit und Abschottung, zwischen Integration und Abgrenzung. Dabei geht es um die Offenheit von Gesellschaften und Märkten, aber auch darum, wie offen die Staaten für Integration sind. Schlüsselthemen hierbei sind bislang Einwanderung und Europa. Dadurch haben sich die Grundkoordinaten der politischen Auseinandersetzung verschoben. Die neue Konfliktlinie hat eine tiefgreifende Veränderung nicht nur des Parteiensystems, sondern der politischen Konfliktlandschaften insgesamt zur Folge. Dies ist ganz offensichtlich für viele Bürger Anlass für Verunsicherung. Die politische Welt scheint aus den Fugen geraten zu sein. Und die vertrauten politischen Parteien und Institutionen scheinen als Stabilitätsanker auszufallen.

All dies trägt sicherlich zu der Wahrnehmung bei, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt geschwächt wurde. Aus meiner Sicht ist der neue Populismus jedoch eher ein Symptom – wenn man so will ein Spätwarnsystem – für die Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, in dem mehrere längerfristige gesellschaftliche und politische Entwicklungen ihren Ausdruck finden.

Das meines Erachtens Wichtigste sind die negativen Nebenfolgen der Individualisierung. Ich würde das die „Schattenseiten der Individualisierung“ nennen. Individualisierung heißt ja nicht Vereinzelung, sondern bedeutet, dass alte, vorgegebene Zugehörigkeiten durch neue, selbst gewählte Bindungen ersetzt werden. Das setzt aber zum einen die Bereitschaft zur Einbindung voraus, die nicht bei allen gegeben ist – das sind die „Ichlinge“, von denen so oft die Rede ist. Es setzt aber auch die Möglichkeit zur Einbindung voraus. Manchen älteren, alleinstehenden Menschen fällt das zum Beispiel schwer. Es gibt die sogenannten „abgehängten Regionen“, in denen diese Möglichkeit nicht in gleicher Weise zur Verfügung steht. Es gibt das Phänomen, dass Menschen gezwungen sind, bestehende Bindungen aufzugeben, etwa, weil sie sich keine bezahlbare Wohnung in Innenstädten leisten können und in das städtische Umland ziehen müssen. Kurz gesagt: Die Gründe dafür, weshalb Individualisierungsprozesse scheitern können, sind verschiedenartig.

Der zweite Faktor ist Zuwanderung und Abwanderung, die in verschiedensten Formen den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen können, weil neue Mitbürger eben erst integriert werden müssen. Das gilt jedoch nicht nur für Zuwanderung aus anderen Ländern oder Kulturkreisen, sondern natürlich auch für die Formen von Zuwanderung innerhalb unseres Landes. Wir hatten in Deutschland in den vergangenen dreißig Jahren eine starke Binnenwanderung – von Ost nach West, aber auch von ländlichen Räumen und Regionen in die urbanen Zentren. All das führte dazu, dass bestehende gesellschaftliche Bindungen schwächer bzw. aufgelöst wurden. All diese Menschen stehen vor der Herausforderung, neue Bindungen erst einmal zu schaffen.

Der dritte Aspekt betrifft das, was Soziologen die zunehmende „Segregation“ unserer Gesellschaft nennen. Das kann man vor allem in Städten beobachten, wo von einer „neuen sozialen Architektur der Städte“ die Rede ist. Arm und Reich, Jung und Alt, Migranten und Nicht-Migranten sind zunehmend in eigenen sozialen Gruppen und Milieus unterwegs. Man ist zwar mit anderen zusammen, bleibt aber unter sich. Man kann das zum Beispiel an der zunehmenden sozialen und ethnischen Homogenität von Kindergärten oder Schulklassen feststellen. Die verschiedenen sozialen Kreise überschneiden sich so immer weniger.

Und der letzte Aspekt, der aus meiner Sicht eine wichtige Rolle spielt, ist die abnehmende Bindungskraft des Staates. Durch Gebietsreformen und Modernisierungen in der Verwaltung, durch die Privatisierung von öffentlichen Infrastrukturen und Wohnungsbaugesellschaften und vieles mehr, ist die Distanz des Staates zu den Bürgern größer geworden. Die Präsenz des Staates und die Sichtbarkeit von öffentlichen Institutionen für die Bürger ist geringer geworden. Das kann viele Vorteile haben, darunter hat aber auch die Bindungskraft des Staates gelitten, also seine Fähigkeit, die Bürger und die verschiedenen sozialen Gruppen an ein übergeordnetes Gemeinwesen zu binden.

All diese Entwicklungen – die Schattenseiten der Individualisierung, Zu- und Abwanderung, die zunehmende Segregation und abnehmende Bindungskraft des Staates – tragen zusammen zur Schwächung des sozialen Zusammenhalts bei. Um zu verstehen, was da alles „ins Rutschen“ geraten ist, dürfen wir folglich nicht nur den neuen Populismus in den Blick nehmen. Wir müssen verstehen, dass sozialer Zusammenhalt ein vielschichtiges Phänomen ist, dass seine Erosion ganz offensichtlich viele Gesichter hat und dass sie Folge von längerfristigen strukturellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft ist.

Sehen Sie Ansätze, um diesen Entwicklungen zu begegnen und die beschriebene Distanz wieder zu verringern?

Prof. Dr. Edgar Grande: Ich möchte vorausschicken, dass meines Erachtens die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts tatsächlich eine neue und zentrale gesellschaftspolitische Aufgabe ist. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass die Schwächung des Zusammenhalts, die wir beobachten, eine vorübergehende Entwicklung ist. Wir sollten auch nicht erwarten, dass sich das von selbst wieder einrenkt. Schließlich sollten wir nicht annehmen, dass sich das Problem erledigen wird, wenn die Wahlergebnisse für die AfD wieder schwächer werden. Wenn meine Diagnose stimmt, dass hier längerfristige strukturelle Entwicklungen zusammenwirken, dann kommt es einer gesellschaftspolitischen Schlüsselaufgabe gleich, sich dieses Problems in den kommenden Jahren aktiv anzunehmen.

Zwei Punkte sind hierbei zu beachten. Zum einen betrifft die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ein ganz breites Spektrum von Politikfeldern. Das reicht von der Wohnungs-, Sozial-, Familien-, Jugend-, Regional- und Arbeitspolitik bis hin zur Bildungspolitik. Die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist folglich eine staatliche Querschnittsaufgabe, die sich nicht durch ein bestimmtes Bundesministerium lösen lässt – weder durch das Innenministerium, das als „Heimatministerium“ um diese Kompetenz erweitert wurde, noch durch das Familienministerium, das sich seit einigen Jahren, wenn man so will, als „Ministerium für bürgerschaftliches Engagement und gesellschaftlichen Zusammenhalt“ sieht.

Zum anderen liegt meines Erachtens der Ansatzpunkt in den Kommunen. Wenn wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen, müssen wir den Blick nach unten richten und nicht nach oben. Die Kommunen nehmen eine Schlüsselstellung ein. Denn zahlreiche Handlungsfelder, ob nun das Wohnen, die Integration von Zuwanderern, die Gestaltung öffentlicher Räume, das Bereitstellen von Begegnungsstätten für Jugendliche, Vereine, lokale Projekte und Initiativen, die Betreuung von alten Menschen oder Bildung – all das sind genuine Aufgaben und Handlungsfelder von Kommunen.

Welche Rolle können die Volkshochschulen spielen?

Prof. Dr. Edgar Grande: Die Bedeutung von Bildungseinrichtungen für die gesellschaftliche und politische Integration nimmt meines Erachtens erheblich zu. Bildungseinrichtungen aller Art – von den Kindergärten über die Schulen und Hochschulen bis hin zu den Volkshochschulen – sind Schlüsselinstitutionen, in denen das Wertefundament unserer Gesellschaft gelegt wird. Hier werden Brücken zwischen verschiedenen gesellschaftlichen, religiösen und ethnischen Gruppen geschlagen.

Es geht aber auch um die Befähigung des Einzelnen. Bildung ist die entscheidende Voraussetzung dafür, dass der Einzelne auch tatsächlich die mit offenen Grenzen verbundene Mobilität und die durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse geschaffenen Wahlmöglichkeiten als Gewinn an Lebenschancen wahrnimmt. Und eben nicht als Zwang, Zumutung oder als Verlust. Dazu müssen die Menschen in allen Lebensphasen befähigt werden. Das ist der entscheidende Punkt. Hier ist die Bildungspolitik in einem umfassenden Sinn gefordert.

Dass lebenslanges Lernen immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist natürlich seit langem bekannt. Dennoch haben wir gerade in diesem Bereich einen großen Innovationsstau. Unsere Schulen und Hochschulen sind noch bei weitem nicht ausreichend darauf eingestellt. Umso wichtiger sind in den vergangenen Jahren Volkshochschulen geworden. Sie sind eher in der Lage, flexibel auf neue Anforderungen zu reagieren, neue Themen aufzugreifen, neue Lern- und Kursformate zu erproben und anzubieten. All das ist im Zwangskorsett der vorgegebenen Lehrpläne und Deputatsstunden von Schulen und Hochschulen viel schwieriger, als im Bereich der Außerschulischen Bildung. Damit kommt natürlich Volkshochschulen auch eine enorme Verantwortung zu, das ist ganz offensichtlich.

Über Professor Dr. Edgar Grande

Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Edgar Grande ist Gründungsdirektor des Zentrums für Zivilgesellschaftsforschung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Dort erforscht er unter anderem politische Konfliktstrukturen und Veränderungen in der zivilgesellschaftlichen Organisationslandschaft.

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  • © David Ausserhofer