Wie kann man Geschichte begreifbar machen – und junge Menschen für die Auseinandersetzung mit Krieg und Verantwortung gewinnen? Die vhs Rur-Eifel (Öffnet in einem neuen Tab) fand darauf eine ungewöhnliche Antwort: Mit dem Computerspiel Minecraft. Kinder und Jugendliche der 5. bis 7. Jahrgangsstufe bauten darin die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Dürener Innenstadt nach – Stein für Stein, digital und kritisch reflektiert.
Was zunächst nach Spiel aussieht, wurde zu einem anspruchsvollen Lernprozess: Im virtuellen Raum rekonstruierten die Teilnehmenden historische Gebäude, recherchierten Quellen, sprachen über Ursachen und Folgen der Zerstörung und stellten Fragen an die Gegenwart. Die Idee für das Projekt hatte Dieter Bergheim, Fachbereichsleiter Gesellschaft und junge vhs der vhs Rur-Eifel: „Ich erinnerte mich an ein Geschichtsprojekt eines hiesigen Gymnasiums, welches den Nachbau der Stadttore der alten Stadtmauer mit Minecraft zum Ziel hatte – und adaptierte den Gedanken auf mein sich entwickelndes Projekt.“
Geschichte digital entdecken
Das Projekt fand im Oktober 2024 statt und verband digitale Kreativität mit historischer Recherche. Gemeinsam mit dem Stadtmuseum Düren, der Stadt Düren und Fachkräften der politischen Jugendbildung erkundeten Kinder und Jugendliche die Geschichte ihrer Stadt rund um den 16. November 1944 – den Tag, an dem Düren durch alliierte Bombenangriffe nahezu vollständig zerstört wurde.
Dabei ging es darum, die Zerstörung in ihren historischen Zusammenhang einzuordnen: als direkte Folge des nationalsozialistischen Angriffskrieges. Gleichzeitig wurde das moralische Dilemma der alliierten Kriegsführung thematisiert. Die Bombardierungen zielten auf die Zerstörung militärischer und industrieller Infrastruktur – trafen aber auch die Zivilbevölkerung und ganze Städte. Die Jugendlichen diskutierten, wie schwierig es ist, in einem Krieg zwischen militärischer Notwendigkeit und humanitärer Verantwortung zu unterscheiden, und welche Fragen diese Ambivalenz bis heute aufwirft.
So wurde Geschichte nicht als einfache Erzählung von Gut und Böse vermittelt, sondern als komplexes Geflecht von Entscheidungen, Ideologien und Konsequenzen. Erinnerung bedeutete hier, Verantwortung und Perspektivenvielfalt zu reflektieren.
Minecraft als Lernlabor der Erinnerung
In Minecraft, einer offenen 3-D-Welt aus Blöcken, fanden die Jugendlichen ein kreatives Werkzeug, um historische Orte zu rekonstruieren und zugleich eigene Fragen einzubringen. Minecraft wurde 2011 veröffentlicht und zählt heute zu den meistgenutzten digitalen Spielen weltweit. Spieler*innen können darin nahezu unbegrenzt Landschaften und Gebäude erschaffen
Auf Grundlage alter Stadtpläne, Fotos und Zeitzeugenberichte entstanden digitale Modelle zentraler Gebäude – vom Marktplatz bis zur Annakirche. Durch die digitale Arbeit wurden historische Fakten lebendig. Jede bauliche Entscheidung erforderte Recherche: Wie sah ein bestimmtes Viertel vor dem Krieg aus? Welche Spuren sind heute noch sichtbar? Was bedeutet Wiederaufbau? Begleitet von Inhalten zum historischen Hintergrund der NS-Zeit lernten die Kinder und Jugendlichen, historische Darstellungen zu prüfen und digitale Medien kritisch zu nutzen.
Minecraft diente dabei nicht als reines Visualisierungswerkzeug, sondern als pädagogisches Labor:
- Die Gestaltung der Stadtmodelle wurde zum Anlass, über Verantwortung, Zerstörung und Wiederaufbau zu sprechen
- Der Wiederaufbau stand exemplarisch für Fragen nach Neuanfang, demokratischen Werten und gesellschaftlichem Lernen aus der Geschichte.
- Das Arbeiten im digitalen Raum regte zur Reflexion über historische Darstellung, Quellenkritik und die Grenzen virtueller Erinnerung an.
Besonders beeindruckend war dabei das Engagement der Jugendlichen, erzählt Projektleiter Dieter Bergheim: „Es gab zwei Gruppen von Jugendlichen – eine, die sich wöchentlich nach der Schule traf, und eine zweite, die ihre gesamte Herbstferienwoche investierte. Das Interesse, geschichtliche Inhalte in die gestalterische Umsetzung einfließen zu lassen, war bemerkenswert.“
Auch medial fand das Projekt Beachtung: Der WDR berichtete in seiner Lokalzeit Aachen über das Projekt und zeigte in einem Fernsehbeitrag, wie Jugendliche mithilfe von Minecraft Geschichte erfahrbar machen. Zum WDR-Beitrag „Minecraft-Projekt zur Zerstörung Dürens vor 80 Jahren“. (Öffnet in einem neuen Tab)
Wirkung und Ausblick
„Digitale Methoden eröffnen der politischen Bildung neue Zugänge“, betont Projektleiter Dieter Bergheim. „Sie ermöglichen es, komplexe Themen erfahrbar zu machen, fördern Teilhabe und schulen den kritischen Umgang mit digitalen Medien.“ Trotz des hohen Aufwands für Konzept, Planung und Förderung zieht er ein positives Fazit: „Der Erkenntnisgewinn und die Freude der Jugendlichen haben jede investierte Minute dreifach vergoldet.“
Das Minecraft-Projekt der vhs Rur-Eifel zeigt exemplarisch, wie digitale Räume zu Orten politischer Bildung werden können. Die Kinder und Jugendlichen erfuhren Geschichte nicht nur als vergangenes Ereignis, sondern als Prozess des Verstehens, Fragens und Handelns. Sie setzten sich mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Krieg und den Folgen für ihre Stadt auseinander – und gestalteten Erinnerung aktiv mit.
Die Verbindung von historischer Kontextualisierung und digitaler Gestaltung schuf Lernanlässe, die klassische Formate selten erreichen. So wurde Minecraft zu einem Medium, das historische Verantwortung und Gegenwartsfragen auf kreative Weise miteinander verknüpft.