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Deutscher Volkshochschul-Verband

„Eine vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert ihre Legitimation.“

Interview mit Bildungsforscherin Dr. Alisha M.B. Heinemann

Aus dis.kurs 03/2019

Dr. Alisha M.B. Heinemann ist seit April 2019 Vertretungsprofessorin an der Universität Bremen im Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Bildungsinstitutionen/-verläufe und Migration. Sie forscht unter anderem in der Migrations-/Fluchtforschung in den Schwerpunkten: Kritische Erwachsenenbildung, Postkoloniale Theorie, pädagogische Professionalität in der Migrationsgesellschaft, Deutsch als weitere Sprache, Mehrsprachige Klassenräume und Übergang Schule – Beruf. Kontakt: heinemannuni-bremende

„Die Vielfalt der modernen Gesellschaft, beeinflusst durch Globalisierung, Migration und den demografischen Wandel, prägt das Leben in Deutschland und der gesamten Welt. Wir können als Volkshochschulen nur erfolgreich sein, wenn wir die vorhandene Vielfalt erkennen und jede und jeden befähigen, sich mit ihren bzw. seinen Kompetenzen in die Gesellschaft einzubringen.“

Ein zentraler Satz aus dem DVV Papier: „Vielfalt. Begegnung. Bildung. Diversity-Management in den Volkshochschulen und ihren Verbänden“. Was aber bedeutet das konkret? Um die vielfältigen Voraussetzungen und Interessen der Volkshochschulen deutschlandweit zu berücksichtigen, wurden im Vorfeld zu diesem Interview Landesverbände und einzelne Volkshochschulen gebeten, ihre Fragen zum Thema, „Diversität/Vielfalt an den Volkshochschulen“ mit uns zu teilen. Diese Vorarbeiten bilden das Fundament für die Ausrichtung des Interviews.

„Diversity, Vielfalt, Diversität“– diese Begriffe sind heutzutage in aller Munde. Was ist eigentlich damit gemeint, wenn wir von Diversität in der Erwachsenenbildung sprechen?

Dafür müssten wir uns zunächst einmal fragen, was gemeint ist, wenn wir von Erwachsenenbildung sprechen. Institutionen der Erwachsenenbildung sind historisch aus einem emanzipatorischen Ansatz heraus entstanden. Sie wollten erstens einen aktiven Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Ungleichheiten durch lebenslang begleitende Lernangebote und Bildungsorte auszugleichen und es ging ihnen zweitens darum, eine demokratische Gesellschaft mitzugestalten. Jene Institutionen, die sich auch heute noch diesen Zielen verschreiben, kommen nicht umhin, sich mit gesellschaftlichen Differenz- und Machtverhältnissen auseinandersetzen. 

Hierarchisierende Kategorien wie beispielsweise das Konstrukt der ‚ethnischen Herkunft‘, Gender, die sexuelle Identität, die Milieuzugehörigkeit, aber auch rechtliche Rahmenbedingungen wie der Aufenthaltsstatus spielen eine wichtige Rolle bei der Frage, wer in dieser Gesellschaft welchen Platz einnehmen kann. Wenn wir von Diversität in der Erwachsenenbildung sprechen, geht es dann vor allem um die Frage, was wir tun können, um a) die ausgrenzende Kraft dieser Kategorien, an denen Differenz festgemacht wird, in unserer täglichen Arbeit nicht zu reproduzieren und b) daraus entstehende Benachteiligungen aktiv zu reduzieren.

„Diversity sollte kein Randthema sein, mit dem sich eine Diversitätsbeauftragte alleine auf einer befristeten halben Stelle herumquält oder etwas, was eine eh überlastete Fachbereichs-leitung noch als Zusatzaufgabe bekommt. Fragen von Differenz und Macht müssen auf allen Organisationsebenen zum Thema werden.“

Warum ist es für die Volkshochschulen wichtig, ein diversitätsorientierter Lernort zu sein? Was wären die Volkshochschulen ohne einen solchen diversitätsorientierten Ansatz?

Das eben genannte, historisch verankerte demokratische Kernanliegen von Erwachsenenbildungseinrichtungen ist der Grund dafür, warum die Volkshochschulen staatliche Steuergelder zur Unterstützung ihrer Arbeit erhalten und nicht einfach komplett privat organisierte und finanzierte Kleinunternehmen sind. Wenn nur ein kleiner und dann – abgesehen von den Deutschkursen – oft vergleichsweise privilegierter Teil der Bevölkerung sich in der vhs repräsentiert sehen kann, stellt sich die Frage, warum sie dann von Steuergeldern aller mitfinanziert werden sollte. Eine vhs, die Diversität nicht berücksichtigt, verliert somit ihre Legitimation und ihre besondere, gesellschaftlich relevante, ausgleichende Funktion. An vielen Stellen haben die Volkshochschulen diese Problematik erkannt und unternehmen wichtige Schritte – diese müssen jedoch ausgeweitet und verstetigt werden. 

Die Volkshochschulen sind aber sehr unterschiedlich aufgestellt- eine Volkshochschule in einem kleinen Landeskreis in Bayern oder Brandenburg kann nicht wie eine großstädtische Volkshochschule in Berlin oder Frankfurt arbeiten. Ist das Thema „Diversität“ eher etwas für die großstädtischen Volkshochschulen? 

Diese Frage wird häufig gestellt, was daran liegt, dass unter ‚diversitätsorientiert‘ oft verkürzt das ‚Gewinnen von migrantischen Teilnehmer*innen‘ durch ein besser abgestimmtes Programmangebot verstanden wird. Abgesehen davon, dass Migration nicht nur in den Großstädten stattfindet, umfasst das weite Konzept der Diversität ja Differenzlinien wie z.B. Geschlecht, sexuelle Identität, sozioökonomischer Status, Alter, Bildungsabschluss etc. Diese finden sich überall – nicht nur in Großstädten.  

Und welche konkreten Schritte sollte die vhs umsetzen, um Diversität auf allen Ebenen zu berücksichtigen? 

Sie sollte erstens ein von der Leitungsebene getragenes Leitbild und Profil entwickeln, das eine klare Ausrichtung der ganzen Organisation auf institutionelle Öffnung vorgibt, wobei migrationsgesellschaftliche Verhältnisse als Normalität und nicht als Sonderzustand bzw. dauernde Herausforderung in den Blick genommen werden sollten. 

Zweitens sollte die Personalstruktur auf allen Hierarchieebenen und insbesondere auf der Leitungsebene die jeweilige regionale Diversität abbilden. Drittens wäre es auf der Angebotsebene sinnvoll, mit den verschiedenen Communities (Vereine, migrantische/queere Communities, Kirchen, Moscheen etc.) vor Ort aktiv zusammenzuarbeiten und ihnen die Möglichkeit zu geben, mit Hilfe der infrastrukturellen Ressourcen der vhs, selbst Inhalte zu setzen und in den Räumen der vhs durchzuführen. 

Vor allem aber sollte Diversity kein Randthema sein, mit dem sich eine Diversitätsbeauftragte alleine auf einer befristeten halben Stelle herumquält oder etwas, was eine eh überlastete Fachbereichsleitung noch als Zusatzaufgabe bekommt. Fragen von Differenz und Macht müssen auf allen Organisationsebenen zum Thema werden. Dafür müssen ansprechend gestaltete Orte und Reflexionsräume geschaffen werden, in denen es nicht um Moral und Schuldfragen, sondern um kritische Reflexivität und veränderndes Eingreifen in benachteiligende Verhältnisse geht. Das könnten beispielsweise verpflichtende Fortbildungsangebote sein, eine Antidiskriminierungsstelle im Haus, diversitätsreflexive Kriterien bei Neueinstellungen, monatliche Reflexionstreffen für den Austausch etc. Auch wenn es am Anfang nach mehr Arbeit aussieht, wird es auf lange Sicht zur Entlastung der täglichen Arbeit führen. Denn andere Perspektiven eröffnen andere Möglichkeiten und eine vhs, die in der Stadt wirklich ‚ankommt‘, wird auch von den Menschen vor Ort ganz anders akzeptiert. 

Wir haben davon gesprochen, dass Diversität nicht allein „migrantisch“ heißt. Trotzdem ist es auffällig, dass sich der Großteil der migrantischen Teilnehmende an Volkshochschulen in einem einzigen Bereich befindet: dem Deutschbereich. Was sind die wesentlichen Gründe dafür, dass der Wechsel von den Deutschkursen in das „offene Angebot“ der vhsen schlecht funktioniert?

Menschen nehmen üblicherweise an Weiterbildung teil, wenn sie einen persönlichen oder beruflichen Nutzen darin sehen, wenn sie Zeit haben, die Angebote wahrzunehmen und wenn sie diese finanzieren können. Die Deutschkurse werden so breit angenommen, weil die Teilnehmenden sich entweder eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten versprechen, teilweise weil sie zur Teilnahme verpflichtet wurden, weil an ihnen Zertifikate hängen, die für die Teilnehmenden aus unterschiedlichen Gründen notwendig sind, und/oder weil die Kosten für die Teilnahme im Verhältnis zur Stundenzahl niedrig und teilweise sogar kostenlos sind. 

Die Teilnahmebedingungen im offenen Angebot sind völlig andere. Insbesondere der konkrete  Nutzen vieler Angebote liegt oft nicht klar auf der Hand, so dass der finanzielle Aufwand nicht im richtigen Verhältnis zu stehen scheint. Dies gilt ja nicht nur für migrantische Teilnehmende, sondern grundsätzlich für die meisten Adressat*innen, die aus sozial und finanziell benachteilten Milieus kommen. 

Studien zeigen, dass Migrant*innen, die mit einem hohen sozialen, kulturellen und ökonomischem Kapital ausgestattet sind, durchaus auch an dem offenen Angebot der vhs teilnehmen. Für die anderen ist ein Übergang in die offenen Angebote aus den Deutschkursen nur dann realistisch, wenn die Teilnehmenden zeitlich entlastet werden (z.B. durch Kinderbetreuung), die Inhalte etwas mit ihren persönlichen Interessen oder Zielen zu tun haben (Lebenswelt- und Bedarfsorientierung), wenn sie sprachlich so aufbereitet sind, dass die Teilnehmenden aus den Deutschkursen, die ja meist maximal mit B1-Niveau abschließen, überhaupt folgen könnten (Sprachsensiblität) und die Kosten so niedrig sind, dass sie in einem realistischen Verhältnis zu ihren eigenen oft prekären Einkommen stehen (Kostenreduktion).

Was ist Ihre Vision für eine vhs in der Migrationsgesellschaft?

Meine Vision für eine vhs in der Migrationsgesellschaft ist eine vhs, die nicht allein auf die Klugheit und das Geschick ihrer Fachbereichsleitungen angewiesen ist, wenn es darum geht, gute Angebote zu konzipieren, sondern vielmehr eine vhs, in der auf allen Ebenen Personen tätig sind, die die regionale Diversität selbst repräsentieren und die gut vernetzt sind mit den jeweiligen Community – Gruppen vor Ort. In Zusammenarbeit mit diesen Gruppen sollten dann spannende bedarfsgerechte Bildungsräume und -gegenstände zur Verfügung gestellt werden, die an die Ursprungsidee „Benachteiligungen ausgleichen und Demokratie fördern“ anknüpfen. Das schließt Angebote zur persönlichen Weiterentwicklung, Gesundheit, Kunst etc. nicht aus. 

Sehr sinnvoll fände ich auch ähnlich wie Stuart Hall es in Birmingham gemacht hat, eine engere Kooperation mit Universitäten insofern diese räumlich gut erreichbar sind. Während Universitäten oft ein Mangel an Praxisnähe unterstellt wird (zu ‚abgehoben‘ und realitätsfern), wird Angeboten der vhs oft ein Mangel an inhaltlicher Tiefe zugeschrieben. Eine engere Zusammenarbeit könnte beiden Institutionen helfen, breitere Akzeptanz zu erreichen, um ihre gesellschaftlichen Aufgaben noch besser erfüllen zu können. In Bremen gibt es dazu schon erste Vorgespräche zwischen Universität und Volkshochschule. 

Die Fragen stelle Manjiri Palicha, heute Geschäftsführende Direktorin der vhs Berlin-Mitte; zum Zeitpunkt des Interviews wissenschaftlich-pädagogische Mitarbeiterin bei der Geschäftsstelle Integration, Inklusion und Diversität der Berliner Volkshochschulen. 

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Bildnachweise

  • Michelle Guitierrez