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Deutscher Volkshochschul-Verband

Bildungsketten weben – mit Textilverarbeitung berufliche Handlungskompetenz stärken in der Kreisvolkshochschule Kusel

In der Nähstube der Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende (AfA) des Landkreises Kusel geht es geschäftig zu. Gemeinsam mit der Strickdozentin Lisette Koster stricken die Frauen Jäckchen und Decken für ihre Kinder und Babys. Viele der Frauen sind gerade schwanger oder bereits Mutter geworden. Die fertigen Stücke werden von den übrigen Frauen in der AfA bestaunt und ziehen immer mehr Frauen in die Nähstube in das Bildungsangebot der Kreisvolkshochschule Kusel (Öffnet in einem neuen Tab)

Die Frauen, die an der Weiterbildungsmaßnahme im Rahmen des Projekts „Bildungsbrücken bauen“ teilnehmen, lernen und arbeiten direkt auf dem Gelände der AfA in Kusel. In einem gesonderten Gebäude ist die Nähstube untergebracht. Dieser Bereich ist während der Zeit der Projektstunden für Männer gesperrt. Die Frauen können so ungestört ihren Handarbeitsprojekten nachgehen und sich austauschen. Es werden handwerkliche Fertigkeiten sowie mathematische Grundlagen vermittelt. Nach dieser Schulung sollen die Frauen in der Lage sein, selbständiger agieren zu können und mit erweiterten handwerklichen Fertigkeiten, für sich und ihre Familien sorgen zu können. So können die Frauen in ihren Herkunftsländern Näharbeiten selbst ausführen und Reparaturarbeiten als Dienstleistung anbieten.

Doch neben der Vermittlung inhaltlicher und berufsbezogener Kenntnisse leistet die Bildungsmaßnahme der vhs Kusel noch einen sehr wertvollen Beitrag zu der persönlichen Stärkung und Ermächtigung der Teilnehmerinnen. Der Fokus liegt auf den Bedarfen geflüchteter Frauen. In dem geschützten Raum der Nähstube und in der Gesellschaft ausschließlich weiblicher Dozentinnen fühlen sich die Frauen sicher und finden einen Raum, in dem sie an ihren eigenen Projekten arbeiten können. Naomi Amosu* ist seit Kurzem in der AfA Kusel untergebracht. Die Fluchterfahrung und ihre unsichere Situation seit sie aus Nigeria nach Deutschland gekommen ist sowie die bedrückende Stimmung in der Aufnahmeeinrichtung, haben eine schwere Depression bei ihr ausgelöst. Um gegen die Sorge und Hoffnungslosigkeit anzukämpfen, hilft es ihr, in die Nähstube zu kommen und am Projekt teilzunehmen. Dort hat sie sich der Dozentin anvertraut. Gemeinsam mit den anderen Frauen zu sein und das Gefühl zu haben, dass sie sich hier öffnen und ihre Ängste teilen kann, sowie die Beschäftigung geben ihr Halt und etwas Hoffnung zurück, berichtet Naomi*.

Die Frauen unterstützen sich gegenseitig und öffnen sich mit ihren Sorgen und Ängsten den Dozentinnen - immer mehr Frauen nutzen die Nähstube für persönliche und vertrauliche Gespräche. Sie können dann abschalten und finden die Zeit, sich auf sich selbst einzulassen und die eigenen Bedürfnisse zu entdecken. Hinzu kommt, dass Mütter mit Kindern in der AfA besonders in der kalten Jahreszeit keinen Ort haben, an dem sie sich gemeinsam aufhalten können. Somit ist die Nähstube ein gerne angenommener Zufluchtsort geworden. Über eine Rückkehr in das Herkunftsland – obwohl sie eher wahrscheinlich ist - wird nur selten gesprochen. Das kann sich hier fast niemand vorstellen. Auch, da die meisten gerade erst in Deutschland angekommen sind und noch darauf hoffen, bleiben zu können.

Viele der Teilnehmerinnen der Maßnahme kommen aus Westafrika, vor allem Nigeria, aber auch aus der Türkei und dem Iran. Während der Bildungsstand der Nigerianerinnen sehr niedrig ist – einige Frauen haben keine Schule besucht und sind zum Teil nicht alphabetisiert – haben die Frauen aus der Türkei und dem Iran zumeist eine höhere Schulbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Viele von ihnen haben vor der Heirat in ihren Ländern als Lehrerinnen gearbeitet.

In der Maßnahme der vhs Kusel setzen die Frauen gerne Projekte für ihre Kinder um, es bestärkt sie ein unmittelbares praktisches Ergebnis ihrer Arbeit zu sehen. Dadurch, dass es sich um eine reine Frauengruppe handelt und der Kursplan an den Tagesablauf der Frauen in der Unterkunft angepasst ist, sodass sie sich noch um ihre Familien kümmern können, haben auch ihre männlichen Familienmitglieder keine Einwände gegen die Teilnahme. Darauf wurde bei der Planung und Anpassung der Maßnahme geachtet, um keine Frauen auszuschließen.

„Die Veränderung, die die Frauen in Sachen Empowerment während des Kurses durchmachen, ist enorm“, erzählt Helen Rapin, die Projektkoordinatorin der vhs Kusel. „Im Vergleich zu der Analyse mit dem Stärkenatlas zu Beginn des Kurses, kann sich die Mehrheit der Frauen nach Beendigung der Bildungsmaßnahme durchaus vorstellen, die erlernten Fähigkeiten auch umzusetzen.“ 

Für Handarbeitsthemen hat sich die vhs Kusel in diesem Projekt entschieden, da Schneider*innen in den meisten Herkunftsländern der Teilnehmerinnen sehr angesehen sind. Zudem haben die Frauen die Möglichkeit, das Erlernte entweder kommerziell auf Märkten oder in einem eigenen Geschäft anzubieten, oder auch im privaten häuslichen Umfeld oder für Nachbarn und Verwandte und kann deshalb als eine so genannte „einkommensschaffende Bildungsmaßnahme“ betrachtet werden.

Frau Koster und ihre Kollegin für den Nähunterricht, Anja Scherer, sind überrascht wie positiv sich das Bildungsangebot auf das Selbstbewusstsein der Teilnehmerinnen auswirkt. Etwaige Sprachbarrieren werden durch praktisches Zeigen und Vorarbeiten überwunden. Bei praktischen Tätigkeiten ist das leichter möglich als bei theoretischer Bildung. Auch üben die oft lernunerfahrenen Frauen beim Stricken und Nähen ihre Konzentrationsfähigkeit und Frustrationstoleranz zu schulen. Denn am Anfang müssen sie noch einige falsche Nähte wieder auftrennen und auch das Zuschneiden der Stoffmuster geht schon einmal schief.

Nichtsdestotrotz gibt es schöne Erfolgsgeschichten zu berichten. Mursal Shamzay* aus Pakistan, eine der Teilnehmerinnen mit einer sehr schwierigen Vergangenheit, hat während des Kurses ein traditionelles Kleid für sich genäht. Dieser sichtbare Erfolg und das Erlernen einer neuen Fertigkeit haben ihr geholfen, selbstbewusster zu werden und ihr das Gefühl gegeben, etwas gestalten und für sich selbst bewirken zu können. Stolz berichtet die 40-jährige von ihrer Idee, auch für andere Frauen traditionelle Kleidung anfertigen zu wollen, um sich damit etwas Geld dazuzuverdienen. 

Auch Halima Nazari* aus Syrien hat durch die Teilnahme an dem Kurs den Mut gewonnen, sich selbstständig zu machen. Sie hat nach ihrem Transfer in die Kommune eine Strickgruppe gegründet und bringt nun Migrantinnen und auch deutschen Frauen das Stricken bei. Mit den Kenntnissen und Fertigkeiten kann sie ähnliche Projekte in ihrem Herkunftsland Syrien nach Beendigung des Bürgerkrieges umsetzen.

*Namen geändert

Weitere Praxisbeispiele

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Bildnachweise

  • Markus Hoffmann
  • Markus Hoffmann
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