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Deutscher Volkshochschul-Verband

Wohnungslos im Wohlstandsreich

Wie ist es, auf der Straße leben zu müssen? Wer ist daran schuld? Und sind Spenden eine sinnvolle Investition? Diesen und vielen weiteren Fragen zum Thema Wohnungslosigkeit im reichen Deutschland gingen zwölf Jugendliche und junge Erwachsene mit der Unterstützung junger Wohnungsloser nach – ein Experiment mit Folgen.

von Sabine Giehle

Hinsehen, wo andere wegschauen

Es ist ein ungewöhnliches Projekt, das der Regisseur Till Ernecke an der Jugendtheaterwerkstatt (jtw) Spandau mit Unterstützung der Volkshochschule Spandau umsetzte: Jugendliche und junge Erwachsene aus Berlin nahmen den Dialog mit den sichtbaren Unsichtbaren der Stadt auf. Sie informierten sich über deren Lage, recherchierten sowohl die politischen und rechtlichen Fakten als auch die gesellschaftlichen Hintergründe und sahen dort genau hin, wo andere wegsehen. Unterstützt wurden sie dabei von drei wohnungslosen Expert*innen, die ihnen ganz konkret von ihrem Leben berichten konnten.

„Wir wollten eine Situation schaffen, in der sich wohnungslose und nicht-wohnungslose junge Menschen begegnen. Wir wollten erreichen, dass die Nicht-Wohnungslosen für die Situation der Menschen ohne Wohnung sensibilisiert werden und verstehen, wie solch eine Situation entstehen kann, wer daran beteiligt ist und wer wie helfen kann“, erläutert Till Ernecke die Ziele des Projekts.

Faktencheck und Nacherleben

Los ging es mit den Grundlagen: Die Jugendlichen lasen Artikel und Texte über Gewalt gegen Obdachlose, den Mietenwahnsinn und den Kampf mit der Bürokratie. „Anschließend haben wir in der Art eines Forum-Theaters einzelne Szenen nachgespielt: Ein Chor trug die Nachrichten vor, die Informationen wurden per Flüsterpost weitergegeben, modifiziert und ergänzt oder einfach laut herausgeschrien“, beschreibt Ernecke den Einstieg in den einwöchigen Ferienworkshop.

Berichte aus der Praxis

Fundierte Informationen gab es auch am nächsten Tag. Eine Streetworkerin war zu Gast und berichtete eindrucksvoll von ihrer Arbeit, ihren Erlebnissen auf der Straße und wie sie damit umgeht. „Sie wurde von der Gruppe geradezu mit Fragen bombardiert“, erinnert sich Ernecke. Die Mädchen wollten wissen, wie es den jungen Frauen auf der Straße ergehe. „Die Streetworkerin hat uns berichtet, dass es für Frauen besonders schwierig sei, auf der Straße zu leben. Bei Gruppen von jugendlichen Obdachlosen könne man daher beobachten, dass auf offenen Plätzen die Jungs außen sitzen und die jungen Frauen in der Mitte. So sollen die Frauen geschützt werden“, erzählt Ernecke.

Gegenseitiges Verständnis

Noch mehr Infos aus dem Leben in Obdachlosigkeit gab es direkt danach. Till Ernecke und seine Kollegin, die Theaterpädagogin Olivia Beck, hatten die drei wohnungslosen Expert*innen, die die Gruppe unterstützten, interviewt und trugen anonymisiert die Ergebnisse vor. Schnell entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch und die Wohnungslosen berichteten ohne Scheu von ihren Erfahrungen und Problemen. Auch die Nicht-Wohnungslosen schilderten ihre Erlebnisse mit dem Berliner Mietwohnungsmarkt.

Für Till Ernecke war das ein wichtiges Erlebnis: „Es hat der Gruppe gezeigt, dass es keinen Unterschied zwischen den Menschen mit Wohnung und jenen ohne Wohnung gibt – mit Ausnahme der Wohnungssituation. Es kann jede und jeden treffen. Das war sehr wichtig für das gegenseitige Verständnis.“

Für Till Ernecke war das ein wichtiges Erlebnis: „Es hat der Gruppe gezeigt, dass es keinen Unterschied zwischen den Menschen mit Wohnung und jenen ohne Wohnung gibt – mit Ausnahme der Wohnungssituation. Es kann jede und jeden treffen. Das war sehr wichtig für das gegenseitige Verständnis.“

Exkursion ins wahre Leben

Nach einem weiteren Recherche- und Lesetag zur rechtlichen und bürokratischen Lage sowie einer spielerischen Aufarbeitung ging es am vierten Tag ins wahre Leben der Wohnungslosen: Die Gruppe machte eine Exkursion in eine Obdachlosenunterkunft der Stadt Berlin. Eine Sozialarbeiterin zeigte den Besucher*innen, wie die Menschen hier leben. Die jungen Leute sahen sich die Gemeinschaftsräume an und die Sozialarbeiterin beantwortete die Fragen der Gruppe. „Für die jungen Menschen war das eine sehr eindringliche Erfahrung, über die wir anschließend sprachen“, berichtet Ernecke.

„Die jungen Leute sehen Obdachlose nun mit anderen Augen und scheuen den Kontakt nicht mehr.“

Till Ernecke, Regisseur und Mitwirkender am Projekt der vhs Spandau

Ein anderer Blick auf Obdachlosigkeit

Die geballten Erlebnisse und Informationen wurden am Ende der Woche gesammelt, sortiert und reflektiert. „Das wichtigste Ergebnis der Woche war, dass die Teilnehmer und Teilnehmerinnen für das Problem sensibilisiert wurden“, resümiert Till Ernecke. „Durch den Kontakt mit den Wohnungslosen und die Berichte der Sozialarbeiterinnen haben sie erfahren und verstanden, dass auf der Straße ganz normale Menschen leben. Wohnungslosigkeit ist nicht allein ein selbstverschuldetes, sondern ein gesellschaftliches Problem, das jeden Menschen treffen kann.“ Die jungen Leute haben daraus auch Konsequenzen für ihr eigenes Leben gezogen. „Sie sehen Obdachlose nun mit anderen Augen und scheuen den Kontakt nicht mehr“, so Ernecke.

Grundlage für ein Theaterstück

Die Schwerpunkte, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in diesem Workshop herausarbeiteten, waren Grundlage für ein Theaterprojekt der Jugendtheaterwerkstatt Spandau. Das ungewöhnliche Stück führten die Teilnehmer*innen – wohnungslos oder nicht – dann im November auf. Jede*r übernahm eine Aufgabe, sei es als Schauspieler*in, bei der Gestaltung des Bühnenbilds, als Regieassistenz oder in der Technik.

„Das war super schön“, erinnert sich Ernecke. „Besonders, dass unsere wohnungslosen Expertinnen und Experten Lust hatten, dabei mitzumachen, hat mich sehr gefreut. Und auch die anderen jungen Leute haben sich weiter für das Thema engagiert.“

„Überbrücken“ heißt das Stück, das daraus entstand. Wohnungsmarkt, Bürokratie, Hilfe, Angst und Vorurteile waren die Themenräume, die von den Zuschauer*innen durchstreift werden konnten. Das Publikum schaute dabei nicht nur zu, sondern konnte selbst aktiv werden – zum Beispiel durch das Ausfüllen eines Antrags.

Unterstützt wurde auch diese Produktion von der vhs Spandau, aber auch von der Aktion Mensch und dem Quartiersmanagement.

Fortsetzung folgt

Das Engagement der Gruppe hat sich gelohnt. „Die Menschen, die das Stück gesehen haben, betrachten Wohnungslosigkeit jetzt anders. ‚Das war sehr emotional und wirkt immer noch nach‘, habe ich von vielen Leuten gehört“, erzählt Till Ernecke.

Aber damit soll noch nicht Schluss sein: „Wir überlegen, mit dem Projekt weiterzumachen“, berichtet Ernecke. „Wir möchten auch in Zukunft mit den Wohnungslosen kulturell zusammenarbeiten.“

Erläuterungen und Hinweise

Bildnachweise

  • Patryk Witt
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